In der Werbung eines bekannten schwedischen Möbelriesens hieß es lange Zeit: Wohnst du noch oder lebst du schon? Heute könnte man fragen: Lebst du noch oder postest du schon? Unser Leben findet teils nur noch durch die Kamera statt. Wenn wir es nicht fotografieren, bearbeiten, posten und teilen könnte man ja meinen es wäre gar nicht passiert. Ein Skandal. Das Leben durch die Kamera begleitet uns mittlerweile täglich und manchmal bestimmt es sogar unseren Alltag, unsere Entscheidungen, unsere Pläne.
LEBST DU NOCH ODER POSTEST DU SCHON – DAS LEBEN DURCH DIE KAMERA
Eine Verabredung zum Frühstück. Das Essen kommt. Aber bevor mit dem Essen das gemacht werden kann, wofür es bestimmt ist, muss kurz noch ein Foto geschossen werden. Die Teller werden hübsch arrangiert, vielleicht noch die Blumenvase ein Stückchen mehr nach rechts und den Löffel gekonnt in die Hand genommen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Nun muss nur noch das Licht stimmen und im besten Fall hat man gleich jemanden dabei, der auf den Auslöser drücken kann. Bis man mit diesem kleinen architektonischen Meisterwerk fertig ist, sind die duftenden Pancakes kalt und der Kaffee abgestanden. Aber immerhin: Instagram und die Welt wissen jetzt, dass wir richtig toll frühstücken waren #fancylifestyle.
Oder die frischen Blumen auf dem Tisch. Sie werden so lange herumgedreht und gezupft bis sie perfekt in der Vase sitzen. Dann noch schnell ein bisschen Schnickschnack daneben, den keiner braucht aber der sich halt gut macht auf Bildern, der richtige Winkel und ab damit in den Feed #freshflowers. Hinterher werden sie für diverse Flatlays, Lifestyleshots und hübsche Portraits mit ihnen in der Hand verwendet. Danach hätte ich als Blume auch keine Lust mehr mehr als 3 Tage frisch auszusehen und Haltung zu bewahren. Das Leben durch die Kamera nimmt dem Moment die Magie.
SPASS VERLIEREN – SPASS VERLERNEN
Bei unserer Wohnungssuche habe ich nach und nach gemerkt, dass selbst dabei der Blick verändert hat. Ich stehe in einem Flur und überlege wie der wohl durch die Linse aussehen würde. Macht sich das gut? Ist der Boden auch passend zu meinem Feed? Gibt es ausreichend Fenster für das perfekte Licht oder wie würde eine „Roomtour“ durch unsere vier Wände hier aussehen? Eigentlich doch total bescheuert.
Leben wir nur dafür, dass andere es sehen und es anerkennen oder doch weil wir es wollen und Spaß daran haben? Wir verlieren durch das Leben durch die Kamera den Spaß an der Sache, wir verlernen ihn sehenden Auges. Wollen wir die Wohnung weil wir uns darin wohlfühlen können oder weil sie sich auf Fotos gut machen wird? Kaufe ich mir die neue Tasche oder eine neue Jacke, weil sie mir gefällt und ich sie brauche oder weil sie im Trend liegt und auf Fotos bestimmt gut aussehen würde?
Für manche Freunde ist vielleicht sogar ein Grund ein Food-Date auszuschlagen oder den Kontakt meiden, weil sie glauben, du wärst perfekt. Ja, perfekt inszeniert. Nicht perfekt im Leben, im Job, in der Beziehung. Aber nach Außen wollen wir dieses Bild gern abgeben. Für andere vielleicht verstörend oder abschreckend. Man wirkt leicht arrogant, oberflächlich und unerreichbar. Dabei ist das Brot mit Nutella doch genauso lecker (wenn nicht sogar leckerer) als die toll drapierte Acai Bowl. Aber sie ist vorzeigbar, sie macht was her, andere beneiden dich darum. Nutella kann eben jeder.
WAS BLEIBT
Was bleibt am Ende davon? Fotos ohne Geschichten. Schauen wir uns in 10, in 20 Jahren unsere digitalen Fotoalben an und blicken zurück auf ein Leben voller Erfahrungen, Glück und Schmerz, Geschichten und Erinnerungen oder doch nur auf inhaltslose Flatlays, arrangierte Café-Tische und perfekt aufgeräumte Wohnzimmer? Lebst du noch oder postest du schon? Ich möchte das Leben durch die Kamera öfter an den Nagel hängen und mich im wahren Leben, in Begegnungen mit Menschen, Freunden und Familie öfter wieder darauf beschränken. Ohne Smartphone, ohne Kamera, ohne Hintergedanken.
DETAILS ZUM OUTFIT
Pullover (hier schon gesehen) – Mango
Hose – Reserved
Bluse – H&M
Tasche – Asos
Schuhe – Tamaris
Uhr – Cluse
Ein toller Beitrag, der absolut zum Nachdenken anregt. Ich glaube, ich habe schon Ewigkeiten nicht mehr einfach nur im Restaurant gegessen ohne mein Essen vorher zu fotografieren. Und ja auch das zurecht rücken der Tischdeko kommt mir bekannt vor … Ich kann auch gut verstehen, dass du dir Wohnungen angeschaut hast mit dem Gedanken “ wie sieht das durch die Linse aus?“, man denkt auch im Alltag ständig so als würde man die Kamera in der Hand haben. Was einem erst bewusst wird, wenn man wirklich mal drüber nachdenkt.
Liebe Grüße, Milli
(http://www.millilovesfashion.de)